Im Tal der Tränen...

 

Wir schreiben den... eigentlich ist es egal welcher Tag heute ist, denn das, was ich Euch hier sage, zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze letzte Zeit. Mein kleiner Bruder ist verzweifelt. Seit 14 Tagen ist er krank, schleppt sich von einem Arzt zum nächsten und keiner dieser „Weißkittel“ ist in der Lage ihm zu helfen. Er wird immer nur abgeschoben. Sein Orthopäde hat die weitere Behandlung abgelehnt, weil er sich keine Besserung mehr verspricht. Der Chirurg hat ihn mit folgendem Spruch abgefertigt: „Tut mir leid, aber ich kann nichts mehr für Sie tun. Sie könnten es bei einem anderen Arzt versuchen, oder sie versuchen das privat in die Reihe zu kriegen.“ Beim Physiotherapeut das gleiche. Erst nach einigem Drängen hat dieser die Behandlung zähneknirschend wieder aufgenommen. Tja und die Bandage für seinen Rücken...na ja, reden wir nicht drüber. Auf alle Fälle wird sie ein gewaltiges Loch in unsere eh schon angespannte familiäre Finanzlage reißen. Wenn wir Glück haben und ihm passt eine "Von der Stange", kommen wir mit 140 Euro weg. Andernfalls würde uns diese Bandage 200 bis 400 Euro kosten, wenn sie ihm angepasst werden muss...

 

Was die Sache noch schlimmer macht, dass seine Freundin keinerlei Verständnis für seine Lage zeigt. Ständig stachelt sie gegen meinen kleinen Bruder an. Sie, die hoch und heilig schwor, bei ihm zu bleiben, ihm zu helfen. Das gesamte „Ich liebe Dich für immer“ - Programm. Immer wieder drängt sich mir der Verdacht auf, dass sie nur aus Mitleid bei ihm geblieben ist, oder ihn nur als... ich sage mal „Zwischenhalt“ gebraucht hat, zwischen der alten Beziehung und ihrer neuen, mit der sie schon im Bett war, als sie noch mit meinem kleinen Bruder zusammen war. (Was für ein Satz...) Er hat sie letzten Sonntag vor die Tür gesetzt. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass für sie eine Beziehung mit meinem kleinen Bruder nicht leicht ist. Mit seinen Leiden klarzukommen, seinem Schmerz, seinem Leben. Ich habe das Gefühl, sie hat es nicht einmal versucht, und dabei hat sie nicht einmal einen Bruchteil dessen gewusst, was ich von meinem kleinen Bruder weiß.

 

Er rief mich an jenem Sonntag um die Mittagszeit an, ob wir uns treffen können. Ich sagte zu und wir trafen uns auf neutralem Boden, wo ich ihn auch gleich abends nach Treuen in die Eisdiele einlud. Er erzählte mir die Geschichte und sagte dann, dass er sie erst einmal zur Rede stellen wolle, warum, mit wem und wie oft schon fremdgeht. Wir redeten eine Stunde lang und ich merkte, wie sehr ihn das alles belastete. Ich verabschiedete mich danach mit den Worten: „Wenn etwas ist, rufe mich an.“ Ich fuhr nach Hause und er zu seiner Freundin. Ich machte meinen Haushalt, versorgte meinen Hund, machte die Waschmaschine fertig. Es dauerte keine zwei Stunden, klingelte das Telefon und mein kleiner Bruder war dran. „Bist Du zu Hause?“ „Ja.“ „Ich stehe vor deinem Haus.“ Anmerkung: Mein kleiner Bruder kommt nie zu mir nach Hause, weil er Angst vor Hunden hat und das er dennoch da war, war in dem Moment ein verdammt schlechtes Zeichen. Wir hätten uns ja auch irgendwo anders treffen können. Ich setze mich zu ihm ins Auto und wir redeten. Nicht sehr lange, denn uns lief die Zeit davon, da ja noch das Eisessen auf dem Programm stand, aber lange genug, um mir ein Bild vom Ernst der Lage machen zu können.

 

Am Abend fuhren wir nach Treuen. Ich sah ihm an, dass er sich quälte. Er rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her und verzog bei jeder Bewegung schmerzvoll das Gesicht. Ich beendete den Abend und fuhr ihn nach Hause. Beim Abschied gab er mir zu verstehen, dass ich ihn noch mal zurückrufen sollte. Schon während der Heimfahrt beschlich mich ein komisches Gefühl, sodass ich zum Telefon griff und ihn anrief. Es war ein kurzes Gespräch und ich konnte seine Verzweiflung spüren, wie sie langsam über das Handy in meinen Kopf kroch und meine Gedanken vernebelte. Ich drehte zur nächsten Tankstelle ab, versorgte noch Zigaretten und fuhr zurück zu ihm. Bei ihm angekommen, öffnete er mir die Tür und ich betrat schweigend seine Wohnung. Ich zog mir die Schuhe aus und ging zu ihm ins Wohnzimmer. Er saß auf der Couch, hatte die Beine angewinkelt und spielte an einem eingepacktem Keks herum. (Nicht lachen!!) Ich setzte mich neben ihn auf die Couch, legte die Zigaretten auf den Tisch und zündete mir bei der Gelegenheit gleich eine an. Es vergingen fünf Minuten, in denen kein einziges Wort fiel. Dann flog der Keks über den Tisch auf den Fußboden und mein kleiner Bruder brach in Tränen aus. Ich legte meine Hand auf seine Schulter. Er sagte, dass er in seiner Verzweiflung einfach nicht mehr weiter weiß. Er habe Angst. Angst, noch länger krank zu sein. Angst, auf Arbeit zu gehen, weil er befürchtete, dass die Kollegen ihm „die Hölle heiß machen“. Angst davor, zum Arzt zu gehen und weiter krank geschrieben zu werden und Angst davor, wieder in den Suff abzurutschen. Er gestand mir, dass er die letzten drei Tage wieder kräftig „zur Flasche griff“. Ich ermutigte ihn, etwas mit mir spazieren zu gehen und er willigte ein, was sich später als Fehler erwies. Keine 500 Meter von seiner Wohnung entfernt brach er erschöpft auf einer Parkbank zusammen. Ihm war schwindelig und sein Rücken schmerzte ihm. Er taumelte und konnte weder sitzen noch stehen. Wir saßen etwa eine halbe Stunde auf dieser Bank und ich fragte ihn immer wieder, ob es nicht besser wäre, wenn ich mein Auto hole und ihn heimfahre. Er gab mir immer wieder zu verstehen, dass es nicht notwendig sei und er das schon schaffe. Ich habe zu späterer Stunde einfach gesagt, er solle hier warten, ich hole das Auto. Ich habe die Beine buchstäblich in die Hand genommen, in erster Linie nur, damit ihm keine Zeit bleibt, mir Widerwort zu geben. Als ich wieder bei ihm ankam, schleppte sich mein kleiner Bruder von der Parkbank zum Auto. Ich öffnete unterdessen die Wagentüre, drehte das Fenster runter, schob den Beifahrersitz ganz nach hinten und klappte die Lehne runter. Er kroch vorsichtig in mein Auto, legte sich in den Sitz und bedeckte mit seinen Armen sein Gesicht. Es war schrecklich, ihn so leiden zu sehen. Ich habe ihn dann vorsichtig zu sich nach Hause gefahren. Obwohl gefahren bin ich in dem Sinne nicht. Ich schlich mit weniger als 20 km/h durch die Ortschaft, wich jedem Schlagloch und Gullydeckel aus, nur um meinen kleinen Bruder so schonend wie nur möglich nach Hause zu bringen. Als wir bei ihm zu Hause ankamen, rappelte er sich langsam auf und stellte die Lehne wieder gerade und da saß er nun, schwer atmend mit gesenktem Kopf. Ich ließ ihm noch etwas Zeit damit er ein wenig Kraft sammeln konnte und brachte ihn dann in seine Wohnung. Ich blieb noch etwas bei ihm, doch um zwei Uhr nachts beschloss ich dann, selbst nach Hause zu fahren und wir verabschiedeten uns. Jedenfalls versuchten wir das. Es war der schwerste Abschied, den ich bis heute erlebt habe. Wir konnten uns einfach nicht voneinander trennen. Eine Stunde standen wir zwischen Tür und Angel und in jeder Sekunde, die verging, wuchs in mir die Sorge und die Angst um meine kleinen Bruder. Als er mir zum Abschied die Hand reichte, sagte ich nur „Komm her, kleiner Bruder...“, zog ihn an mich heran und nahm ihn in fest den Arm. Einfach nur, um ihm zu zeigen, dass ich immer für ihn da bin, ihn festhalte, egal was noch kommt. Ich weiß nicht, wie lange wir uns in den Armen hielten, zwei, vielleicht auch drei Minuten bis er mit leiser Stimme zu mir sprach: „Ich werde das schon schaffen, mach Dir keine Sorgen...“ Ehrlich gesagt, ich bin über das Level, wo ich mir Sorgen mache schon lange darüber hinaus. Ich habe Angst um ihn. Ich kann nur nicht den ganzen Tag bei ihm sein, schon des eigenen Jobs wegen. So bleibt mir nur in Hoffnung und Vertrauen meiner Arbeit nachzugehen, während sich mein Innerstes vor Schmerz hin- und herwindet...

 

                         

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