Nach Kais Tod stand ich vor der wohl schwierigsten Entscheidung meines Lebens. In der Dunkelheit zu leben oder im Licht zu sterben. Ich hatte den Glauben und das Vertrauen an ihn verloren, ihn, der "Der Herr" oder "Gott" genannt wird. Der, welcher die Seelen Verstorbener in das Himmelreich einlässt. Ich, der ich gerade noch so am Leben war, hatte nur Hohn und Spott übrig. Ich fühlte mich betrogen und ausgenutzt aber ich war entschlossen. Er sollte MEINE Seele niemals bekommen. Ich umringte mich mit finsteren Gestalten, fing an 'Schwarze Messen' abzuhalten und warf meine sterbende Seele den Dämonen buchstäblich vor die Füße. Ich bereitete mich auf das Ende vor, schmiedete Pläne, welche mich vom Elend erlösen sollten. Penibel durchdacht, wie eine Schach-Partie, Zug um Zug...
Es war eine regnerische Nacht Anfang November. Ich schlich mich von zu Hause weg und machte mich auf den Weg ins Ungewisse. Ich lief die menschenleeren Straßen entlang, über den Friedhof, an Davids Grab vorbei, immer weiter durch die Nacht. Schwer waren meine Schritte tief erfüllt von Verzweiflung, schwer mein Atem, wie der Hauch des Todes. Die Last des Lebens, welche auf meinen Schultern lag, begann mich langsam zu erdrücken. Ich lief weiter, immer weiter und je weiter ich lief, umso schwerer wurden meine Gedanken und ich erlebte Momente der Gefühllosigkeit - das inner Sterben.. .Ich erreichte die Bahntrasse, welche Chemnitz und Zwickau miteinander verbindet. Ich balancierte auf einem der Schienenstränge herum, bis ich auf dem nassen Strang ausrutschte und sehr unsanft auf den Schwellen aufschlug. Da saß ich nun, tropfnass mit schmerzverzerrtem Gesicht und fasste den Entschluss, mein Leben zu beenden. Durch meine Berufsschule in Chemnitz und die täglichen Zugfahrten hatte ich noch den Fahrplan im Kopf. Ich schaute auf meine CASIO-Uhr, die ich damals zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte und wusste, dass in zehn bis zwölf Minuten alles vorbei sein würde. Ich legte mich zum Sterben auf den eiskalten Stahl, einen Schienenstrang in der Kniekehle, einen unter dem Genick und starrte in die Nacht. Der Regen peitschte mir ins Gesicht und der Wind fuhr mir durch die nasse Kleidung, während ich mir frierend das Rauschen in den Gleisen herbeisehnte, welches diese Tortur für immer beenden wird. Ich schloss die Augen und wartete auf den stählernen Engel des Todes, damit er in seiner Gnadenlosigkeit mein Werk vollende.
Ich zitterte am ganzen Körper, schaute unentwegt auf die Uhr... fünf Minuten... zwei Minuten... gleich ist es soweit. Nur noch wenige Augenblicke und ich würde für immer in die Abgründe der Hölle fahren. Es war mir egal, nur raus aus diesem Leben, weg von dieser schrecklichen Welt. 2:36 Uhr... TIME OUT... doch nichts geschah. Der Engel des Todes blieb fern. Keine Lichter, kein Rauschen nur der Regen und der Wind. Wut machte sich breit. Konnte denn nicht einmal an meinem Todestag die Bahn pünktlich sein? Wozu eine Galgenfrist? Wenn mich das Schicksal nicht in Ruhe leben lässt, wieso darf ich dann nicht in Ruhe sterben? Was zum Henker sollte das Alles? Nein, so leicht gebe ich nicht klein bei. Ich schloss wieder die Augen und wartete. Meine Glieder schmerzten vor Kälte, ich konnte meine Hände und Füße nicht mehr fühlen. Nach etwa einer halben Stunde schierer Quälerei gab ich dann doch auf und kroch langsam von den Bahngleisen runter und schleppte mich heimwärts, steifgefroren und bis auf die Haut durchnässt. Etwa 300 Meter lagen zwischen mir und den Gleisen, als ich hinter mir jenen Zug hörte, welcher mich ins Jenseits bringen sollte. Ich drehte mich nicht um, sondern setzte meinen Weg fort. Es musste eine andere Möglichkeit geben, schnell, zuverlässig, ohne lästige Warterei. Trotz des festen Willens zu sterben, würde ich wohl so eine Nacht nicht noch einmal durchleben wollen. Ich brauchte einen besseren Plan, denn dieser hatte eine Schwachstelle. In der vorangegangenen Nacht wurden die Fahrpläne der Nahverkehrszüge vom Sommerfahrplan auf den Winterfahrplan umgestellt...