Die letzten Tage...
Die letzten Tage ist viel passiert, zu viel, um Alles zu begreifen. Es gibt einen kleinen Hügel am Rande der Stadt, von dem man nachts einen tollen Blick über die Lichter der Umgebung hat. Einst war dies der geheime Rückzugsort meines kleinen Bruders. Hier verbrachte er oft viele Stunden der Einsamkeit, wenn es ihm schlecht ging, um nachzudenken oder einfach nur, um alleine zu sein, wenn ihm die Last des eigenen Lebens zu schwer wurde. Es ist schon einige Wochen her, als mich mein kleiner Bruder zu jenem Ort mitnahm und dieser kleine Hügel zu „unserem“ heiligen Land wurde, denn ich bin der Einzige, den er je in dieses Geheimnis einweihte. Jetzt verbringen wir dort gemeinsam viele Stunden. Reden über das Leben, den Tod, das Schicksal, hören laute Musik oder entspannen einfach nach einem harten Arbeitstag. Hier haben wir gemeinsam gelacht, gemeinsam geweint oder uns einfach nur angeschwiegen. Es scheint für viele unverständlich, wie ein kleiner Hügel, mitten in der Einöde, zugewuchert mit Unkraut und kniehohem Gras, in irgendeiner Form etwas Heiliges darstellen kann. Das wird wohl auch einer der Gründe dafür sein, dass mein kleiner Bruder diesen Ort so lange geheim hielt. Wenn ich diesen Flecken Erde sehe, dann erinnert er mich irgendwie an jenen Ort, den ich in meiner Meditation aufsuche... nur der große Fels fehlt...
Samstag, 12.August 2006, 23:30 Uhr... Wir waren beide in jener denkwürdigen Nacht mit dem Auto unterwegs. Er war bei einer seiner alten Schulfreundinnen und ich sollte einen Freund in der Nähe von Plauen abholen. Es war schon weit nach Mitternacht und ich hatte noch keine Lust nach Hause zu fahren, also schrieb ich meinem kleinen Bruder eine SMS, ob er nicht Lust hätte, noch etwas mit mir durch die Nacht zu fahren. Er willigte ein und wir trafen uns an einer ARAL-Tankstelle zu einem kleinen Mitternachtsimbiss. Cappuccino mit extra Milch und Zucker, eine Bockwurst für mich und ein belegtes Brötchen für mein Bruderherz. Nach dem „Galadinner“ beschlossen wir, unseren kleinen Hügel aufzusuchen und die Nacht ruhig ausklingen zu lassen...
Keiner von uns Beiden ist diese Nacht dort oben angekommen....
Sonntag, 13. August 2006, 2:40 Uhr... Mein kleiner Bruder fuhr vor. Ich folgte ihm etwas später, weil ich noch eine andere CD einlegen wollte. Ich zog zur Tankstelle raus und gab Gas. Etwa 200 Meter trennten uns zu diesem Zeitpunkt. Da mein kleiner Renault Twingo etwas besser „zu Fuß“ ist, als sein Skoda, konnte ich nach einem Kilometer den Abstand zwischen uns auf etwa 75 Meter reduzieren. Ich sah die Bremslichter des Skodas und wie er der Linkskurve folgte, die durch ihre Bodenwellen und Asphalt-Aufwürfe berüchtigt ist. Ich bremste ebenfalls und bog in die Kurve ein. Ich hatte die Kurve halb durchfahren und sah seinen Skoda wieder... hochkant auf der Motorhaube gegen einen Baum schleudernd, sich um die eigene Achse drehend, bis er auf dem Dach zum liegen kam. In diesem Moment habe ich meinen kleinen Bruder sterben sehen... Ich würgte meinen Renault herunter, was sich auf den vielen Glassplittern, die über die gesamte Straße verteilt waren, ziemlich schwierig gestaltete und kam keine 10 Meter vor dem Skoda zum stehen. In diesem Moment dachte ich nur eins... Scheiße, Scheiße, Scheiße!!! Ich versuchte aus meinem Auto auszusteigen. Ich hatte jeden Hebel von dieser Türe in der Hand, jeden... von der automatischen Spiegeleinstellung bis zum Fensterheber, weil ich in der Hektik den Türgriff nicht fand. Fluchend und tobend fand ich dann doch jenen Hebel, welcher mir die Türe öffnete und während ich nach draußen stürzte, merkte ich, warum das eine Teil da Gurtstraffer heißt. Ich habe mein ganzes Leben nicht so viel geflucht wie in den drei Sekunden, wo ich versucht habe aus dem Auto auszusteigen.
Als ich am Wrack ankam, brannte die Innenraumbeleuchtung. Ich schaute durch das, was mal ein Seitenfenster war und sah meinen kleinen Bruder, wie er hektisch versuchte sich vom Sicherheitsgurt zu befreien. Ich rannte auf die Fahrerseite, schnappte mir gerade das, was ich von meinem kleinen Bruder erwischen konnte und zog ihn aus dem Wrack, da sowohl aus dem Motorraum, wie aus dem Kofferraum Flüssigkeiten ausliefen. Wir liefen in Richtung meines Wagens, ich alarmierte die Rettungskräfte und mein kleiner Bruder rief seine Familie an. Ein junges Pärchen hielt kurze Zeit später hinter meinem Auto und kam auch gleich nach vorn gerannt. Während sich die Frau um meinen kleinen Bruder kümmerte, stellten der Mann und ich die Warndreiecke auf. Ich merkte, wie mein kleiner Bruder schwächer wurde und sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ich verfrachtete ihn in mein Auto, startete den Motor und drehte die Heizung auf, weil mein kleiner Bruder anfing zu frieren. Der Schock nahm seinen Lauf. Die einzige Sorge, die mein Bruderherz in dem Moment hatte, dass er mein Auto mit Blut voll schmieren könnte.. *kopfschüttel* Er bekam Durst, da ich aber die Unfallstelle nicht verlassen konnte, hielt ich ein vorbeifahrendes Auto an und fragte den Fahrer, ob es denn nicht möglich wäre, zur Tankstelle zurückzufahren und etwas zu trinken zu holen. Er sagte sofort „Schon unterwegs“, brauste davon und ich setzte mich wieder zu meinem kleinen Bruder ins Auto. Derweilen traf der erste Streifenwagen ein und stellte sich hinter uns. Kurze Zeit später kam ein zweiter und sperrte vor uns alles ab. Dann ging das ganze Theater los... Papiere, Personalien, Alkoholtest, Zeugenaussage, zwischendurch der nette Herr mit dem Mineralwasser, Spurensicherung, der Vater meines kleine Bruders kam auch noch, der Krankenwagen und ich hatte plötzlich die Papiere meines kleinen Bruders in der Hand, keine Ahnung, wieso. 12 Leute stürzten wie wild am Unfallort rum. Unterdessen brachten sie meinen kleinen Bruder in den Krankenwaagen, wo er medizinisch behandelt wurde. Nachdem noch einige Fragen geklärt wurden, setzte sich der Krankenwagen Richtung Städtisches Klinikum in Bewegung und ich folgte ihm.
Sonntag, 13. August 2006, gegen 4:00 Uhr... Während sie meinen kleinen Bruder in der Notaufnahme ärztlich versorgten, drückte mir einer der Rettungssanitäter die Brille meines kleinen Bruders in die Hand und wies mich an, im Vorraum Platzzunehmen. Da saß ich nun. Jede Sekunde, die verging kam mir unendlich vor. Immer wieder liefen die Bilder dieser schrecklichen Nacht vor meinen Augen ab. Das leise Ticken der Uhr im Vorraum dröhnte in meinem Kopf, unaufhörlich... tick... tick... tick... Ich verließ fluchtartig den Vorraum, ich musste einfach raus. Draußen zog ich mir dann drei Zigaretten rein und lief auf dem Parkplatz Kreise. Einerseits um überhaupt irgendwas zu tun, irgendwo zu sein und um zweitens meinen Kreislauf in Gang zu halten. In dem Moment stand ich wohl selbst unter Schock. Tränen liefen mir über das Gesicht und mein Puls raste, 120... 130 Schläge in der Minute. Später kamen die Polizeibeamten vom Unfallort und verschwanden im Behandlungsraum. Dann kamen sie zu mir nach Draußen und befragten mich noch zum Unfallhergang. Einer der Beamten sagte mir dann, er würde meinen kleinen Bruder nach Hause fahren und es wäre besser, wenn ich auch nach Hause gehen würde, ich würde nicht gut aussehen. Ehrlich gesagt, wusste ich das in dem Moment selber. Nach einigem Zögern folgte ich dem Rat des Polizeibeamten und fuhr gegen 5:00 Uhr nach Hause. Ich legte mich auf meine Couch und versuchte etwas Ruhe zu finden. Ich fand die Ruhe, aber nicht innerlich. Die Bilder gingen mir immer noch durch den Kopf. Ich stellte mir immer wieder die gleichen Fragen: Warum? Wie konnte das passieren? Warum habe ich ihn vornweg fahren lassen? Was ist schief gelaufen?...
Es hat keine zwei Stunden gedauert, saß ich schon wieder hinter dem Steuer meines Pkws. Ich fuhr sinnlos in der Gegend herum und fand mich bei McDonalds wieder. Es war gerade um 8:00 Uhr und obwohl ich Hunger hatte, brachte ich keinen Bissen herunter. Wie geht es wohl meinem kleinen Bruder? Was macht er gerade? Schläft er, oder zieht er genauso umher, wie ich? Ich rief ihn an, aber er meldete sich nicht. Ich fuhr zu jener Tankstelle, an der alles begann, und bestellte mir einen Cappuccino... mit extra Milch und Zucker... Ich fuhr zur Unfallstelle. Überall am Straßenrand glitzerten die Glassplitter in der Sonne. Ich hielt meinen Waagen an und stieg aus. Links donnerte der Verkehr an mir vorbei, während ich mich langsam dem Baum näherte, an den mein kleiner Bruder prallte. In dem Moment überkam mich ein Gefühl der Dankbarkeit diesem Baum gegenüber. Wäre er nicht gewesen, wäre mein kleiner Bruder wohl nicht wieder auf die Straße geschleudert worden, sondern wäre den Abhang hinunter in die „Mulde“ gerutscht. Ich lief am Straßenrand entlang, die einzelnen Glassplitter knirschten unter meinen Schuhen. Ich hob noch einige Trümmer auf, die ich fand und verstaute sie in meinem Kofferraum. Nur Kleinigkeiten, Fragmente des Außenspiegels und der Innenverkleidung. Gegen halb 10 habe ich die Unfallstelle verlassen und fuhr auf unseren Aussichtspunkt. Es war so still... keine Musik, kein Gerede, kein Lachen... nichts als erdrückende Stille. Es war das erste Mal, dass ich mich hier oben unbehaglich fühlte. Ich kramte in meinen CDs herum und fand die Brille meines Bruders. Ich zog das Handy aus meiner Hosentasche, warf es aber auf den Beifahrersitz und fuhr gleich zu ihm...
Sonntag, 13. August 2006, kurz vor 11 Uhr... Ich fahre bei meinem Bruderherz vorbei und klingele an seiner Tür. Sein Moped, das normalerweise im Hof steht, ist nicht da und ich ahne schon wieder Schlimmes. Es macht mir niemand auf und ich greife zum Telefon. Als er rangeht, frage ich, wo er denn sei. Er sagte, dass er zu Hause ist und noch im Bett liege. Ich fragte ihn, ob ich mal schnell reinkommen dürfe und er öffnete mir die Tür. Ich gab ihm seine Brille und setzte mich zu ihm auf die Couch. Es war furchtbar. Wir fühlten uns beide so beschissen, dass keiner auch nur ein Wort sagte. Wir waren fertig, fertig mit den Nerven, fertig mit der Welt, fertig mit Allem. Eine gute halbe Stunde verging in der nur fünf Sätze gesagt wurden. Fünf Sätze, zwei davon zum Abschied, als ich ging. Er hatte den gleichen Gesichtsausdruck wie damals, als er sich von seiner Freundin trennte und das machte mir große Sorgen. Ich fuhr zu meiner Mutter zum Mittagessen, sie hatte mich eingeladen und verbrachte den Nachmittag noch bei ihr.
Gegen 17:00 Uhr traf ich mich mit meinem Freund, der sich noch einmal für die nächtliche Taxifahrt bedankte und mich nach Treuen in unsere "Stamm-Eisdiele"einlud. Er merkte, dass mit mir etwas nicht stimmt und begann mich auszuquetschen. Ich schwieg und bat ihn, auch nicht weiter zu fragen. Ich musste selbst erst meine Gedanken ordnen, bevor ich überhaupt Jemandem etwas von dieser Nacht erzählen konnte. Wir fuhren nach etwa einer Stunde wieder nach Hause. Bei ihm angekommen, drehte er das Radio leise und sagte: „Komm schon, ich weiß, dass etwas nicht stimmt. Was ist los?“ Ich konnte es in dem Moment nicht länger fär mich behalten. Ich erzählte ihm Alles. Ich versuchte mich zusammenzureißen, aber es half nichts. Die Emotionen überrannten mich und ich weinte, wie so oft in den letzten Stunden. Wir redeten lange miteinander und dann sagte er: „Ich habe Angst, Dich jetzt alleine nach Hause fahren zu lassen.“ Aber irgendwie musste ich dann doch nach Hause, denn es ging schon langsam auf 21:00 Uhr zu. Ich fuhr nach Hause... jedenfalls wollte ich das. Ich fuhr noch einmal bei meinem kleinen Bruder vorbei, um zu schauen, ob er zu Hause ist und bei ihm Licht brennt. Es brannte und ich fuhr gleich weiter zu BurgerKing™, holte mir ein paar Chicken-Nuggets und einen Cappuccino und startete durch auf unseren kleinen Hügel. 22:26 Uhr zeigte die Uhr im Armaturenbrett als ich den Motor abstellte und ich fing an zu rechnen. Ich war nun schon über 36 Stunden auf den Beinen. Ich war weder müde, noch erschöpft, mein Puls raste und mein Innerstes quälte sich noch immer. Ich trank meinen Cappuccino, aß diese Nuggets, rauchte eine und hörte etwas Musik. Um 23:00 Uhr etwa rief mein Freund an und fragte, ob ich denn gut zu Hause angekommen sei. Ich sagte ihm, dass ich noch nicht zu Hause war und im Moment in Cainsdorf stehe. Das eindringliche, etwas schockiert klingende „WAAAASSS...??“ klingt mir jetzt noch in den Ohren. Er gab mir zu verstehen, wenn ich ihn brauche, solle ich ihn abholen und ich tat es. Ich holte ihn also ab und fuhr mit ihm zur Unfallstelle. Ich ging noch einmal den Unfall durch, sprach dem Baum meinen Dank aus und dankte auch meinem Wächter, denn ich weiß, er war in jener Nacht hier. Wir fuhren noch mal zu BurgerKing™ und anschließend brachte ich meinen Freund nach Hause. Ich beschloss dann ebenfalls nach Hause zu fahren, denn irgendwann musste ich mal zur Ruhe kommen. Als ich gegen Montag früh 4:00 Uhr meine Wohnung betrat, fiel ich einfach ins Bett – nach über 42 Stunden...
Die Bilanz der letzten Tage: 42 Stunden wach, 356 Km gefahren, 30 Euro Benzin verheizt, 7 Schachteln „DANNEMANN SWEETS“ verraucht, fast durchgängiger Puls von über 120 Schlägen pro Minute, knapp 90 Euro sonstige Ausgaben, ein zerfetztes Nervenkostüm und einen saftigen Treffer in meiner Seele...