Gradwanderung...

 

Wir schreiben heute den 22.... Obwohl der Unfall schon neun Tage zurückliegt, ist er immer noch fest in unseren Gedanken etabliert. Jeden Tag aufs Neue reden wir darüber, fahren an der Unfallstelle vorbei, suchen nach Erklärungen und so langsam macht sich Galgenhumor breit. So unterschiedlich wie wir diese Nacht verarbeiten, so unterschiedlich sind auch die Fragen, die sich uns stellen. Das paradoxe daran ist nur, das der Eine die Antwort auf die Frage des Anderen weiß, doch warum ist das so? Ich für meinen Teil denke, dass wir die Antwort auf Alles am Tage der Offenbarung erfahren. Mein kleiner Bruder meint, dass es Schicksal war und so langsam wird mir einiges klar. Wenn ich über mein Leben nachdenke, mit all seinen Höhen und Tiefen, die Schicksalsschläge, die ich einstecken musste, das Leid, die Trauer, der Versuch mich selbst zu töten, wenn ich all das mit dem vergleiche, was mein Bruderherz durchmachen musste, sehe ich erschreckende Parallelen. Ist es denn wirklich Schicksal, dass uns beiden immer wieder so schreckliche Dinge passieren? Die Frage, was wir falsch gemacht haben, dass uns das Schicksal so quält, ist immer noch unbeantwortet. Aber so langsam kristallisieren sich Dinge heraus, die zwar weit über das menschliche Verstehen hinausgehen, aber immerhin eine Erklärung für Alles darstellen.

 

Der Denkanstoß war ein einfaches Feuerzeug, mit dem ich mir mein Zigarillo anzündete. Wissenschaftlich gesehen nur eine simple chemische Reaktion, bei der mit Hilfe eines Funken ein gasförmiger Kohlenwasserstoff entzündet wird, welcher durch die Reaktion mit Sauerstoff zu Kohlendioxyd- und Wassermolekülen umgewandelt wird. Gewöhnlicher ausgedrückt ist es einfach nur ein Feuer, eine Flamme... ein Licht. Im Grunde genommen braucht das Licht immer irgendeine Form von Energie. Sei es durch die Verbrennung eines Kohlenwasserstoffs, die Verschmelzung von Wasserstoffatomen zu Helium oder durch die Reibung von Elektronen, die den Draht einer Glühlampe zum Leuchten bringt. Doch was ist mit der Dunkelheit? Sie ist allgegenwärtig. Im Inneren eines Schranks, in einer ungeöffneten Cola-Dose, im Keller... einfach überall. Sie ist es, die uns nachts den Schlaf bringt, durch den wir neue Kraft schöpfen. Sie beflügelt unsere Phantasie und schürt unsere Ängste. Braucht sie dafür Energie? Was ist, wenn die Dunkelheit selbst eine Art Energie ist? Eine Energie, die dem Licht erst ermöglicht zu leuchten. Das Licht leuchtet nun mal nur in der Dunkelheit, oder?

 

Was das mit meinem Bruder und mir zu tun hat? Fest steht, ich bin ein „Kind der Schatten“, er ist ein „Kind des Lichts“. Unschwer zu erkennen, bin oder habe ich die Energie, die er so dringend braucht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er damals diesen Satz („Nur Du kannst mich jetzt noch retten, nur Du allein...“) aus Blödsinn gesagt hat. Tief in seinem Inneren hat er es gewusst. Die Vereinigung unserer Seelen ist gleichbedeutend mit der Vereinigung von Licht und Schatten und das könnte etwas heraufbeschwören, was das Schicksal um jeden Preis verhindern will. Es klingt nach Spinnerei und weit hergeholt, aber nur so können wir uns die Ereignisse unseres Lebens erklären. So gesehen greift uns das Schicksal immer an der verwundbarsten Stelle an. Freunde, Familie, all die Dinge, die uns wichtig und heilig sind wie die Musik, die Gesundheit... unser Leben. Es geht ja schließlich schon seit unserer Geburt so und jetzt, wo wir uns gefunden haben, versucht das Schicksal uns wieder zu trennen oder gar zu vernichten. Doch diesmal ging diese Rechnung nicht auf. Diesmal waren wir zu zweit, beschützt von den Mächten des Lichts und den Schatten. Mein kleiner Bruder sagte selbst, dass dieser Unfall schlimmer war als der damalige, bei dem er so schwere Verletzungen am Rücken und an den Knien davontrug. Dass er das überhaupt überlebte, schreibt er seinen „Schutzengeln“ zu. Bei dem jetzigen Unfall hat er es für ein regelrechtes Wunder gehalten, dass er diesen Unfall mit „nur“ zwei Schürfwunden und ein paar „blauen Flecken“ überstand. Doch so langsam fängt er an zu begreifen, dass da mehr als Glück und Schutzengel im Spiel waren... viel mehr.

 

Auch wenn die Verluste für unser beider Welten verheerend und sehr schmerzvoll waren, sind wir beide überaus glücklich, dass die Ereignisse jener Nacht so glimpflich wie nur irgend möglich abliefen und ich schulde meinem Wächter meinen aufrichtigsten Dank, denn ich weiß, er war in jener Nacht bei meinem kleinen Bruder...

 

                     

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