"Mein kleiner Freund"

 

Er ist gerade einmal 19 Jahre alt und teilt ein schweres Schicksal mit mir. Permanent versuche ich, ihn aus der Umklammerung der Verzweiflung herauszureißen, damit er wieder frei atmen kann. Für wenige Stunden kann er dann das sein, was er ist - ein Kind. Er ist ein kleiner aufgetrehter Wirbelwind, der viel erzählt. Ich genieße es, ihm zuzuhören. Vieles, was er mir anvertraut, kommt mir bekannt vor, da ich Selbiges auch durchmachte. Nur war ich älter und vielleicht auch etwas reifer, sodass ich vieles besser verarbeiten konnte, als er. Es hat ihn schlimm getroffen. Er verlor, wie ich, seine besten Freunde. Einen durch einen Autounfall. Er fuhr absichtlich mit 180 Kilometer in der Stunde gegen einen Baum. Er war auf der Stelle tod. Sein zweiter Freund verlor sich im Drogensumpf und starb später an einer Überdosis.

Mein kleiner Freund verlor sich im Alkohol. Fast ein Jahr lang hing er an der Flasche und versuchte so, seine Sorgen zu "ertränken". Sein junger Körper nahm immer mehr Schaden, sowohl gesundheitlich, wie auch seelisch. Entziehungskuren folgten, sie er aber nicht durchhielt. Zum Schluß die Diagnose: Leberzirrhose im Anfangsstadium. Er gibt sich verdammt viel Mühe, seinen Alkoholkunsum zu kontrollieren. Zwei Bier am Tag gesteht er sich ein, mehr will er nicht trinken, was er aber nicht immer einhalten kann. Er weiß, wie es enden wird, nur hat er im Moment nicht die Kraft dazu, es zu ändern. Krampfhaft hält er sich an mir fest. Fast wöchentlich schüttet er mir sein schweres Herz aus und ersucht mich verzweifelt um Hilfe.

Sein Unfall vor anderthalb Jahren setzt ihm immer noch sehr zu. Seine Wirbelsäule war zertrümmert, sodass die Ärzte ihm fünf künstliche Wirbel einsetzen mussten. Seine Kniescheiben waren ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen und eine musste sogar entfernt werden. Ständig quälen ihn Schmerzen. Sein Job als Stablerfahrer bei uns in der Firma macht das auch nicht besser. Es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht mit Rückenschmerzen nach Hause geht. Er sagt immer, er brauche das Geld, aber ist der Preis dafür gerechtfertigt?

Seine Freundin hat ihn verlassen und das gemeinsame Kind mitgenommen. Alles, was ihm geblieben ist, sind zwei Autos, die er nicht mehr finanzieren kann, eine Mietwohnung, spartanisch eingerichtet und kalt, utopische Nebenkosten, Rechnungen über Rechnungen und ein leerer Kühlschrank.

Es lässt sich nur schwer beschreiben, wenn man es nicht selbst erlebt hat, wie sich mein kleiner Freund durchs Leben schlägt. Er nimmt nur sehr widerwillig Hilfe an, selbst meine. Es kostet mich manchmal sehr viel Mühe, ihn davon zu überzeugen, dass es das Beste für ihn ist. Er selbst sieht sich dann immer in der Pflicht, das Gegebene zurückzuzahlen. Er kann es nicht und das entfacht in ihm immer wieder ein schlechtes Gewissen, was es wiederum noch schwerer macht, ihm zu helfen. Im Grunde genommen sind wir wie Essig und Öl. Wir passen perfekt zueinander, doch vermischen wir uns nicht...

 

 

Eine liebe Freundin widmete uns beiden folgende Zeilen:

 

Seelenfreund

Bedeckst du auch
die Narben deiner Seele
mit dem Blattgrün
verzauberter Wortbilder,
so täuschst du mich dennoch nicht
denn ich spüre
deinen Wundbrand
tief in meinem Herzen.
 
(c) Seelenliebe


Danke...

 

 

                     

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